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Japanische Kanji: ON- und kun-Lesung

Das Erlernen der Kanji, jener aus China übernommenen Schriftzeichen, gehört fraglos zu den anstrengendsten Bereichen der japanischen Sprache. Man muss nicht nur tausende von Schriftzeichen lernen (vom japanischen Kultusministerium sind 2136 Kanji, die sogenannten jōyō-Kanji 常用漢字, für den japanischen Schulunterricht vorgeschrieben), sondern viele dieser Kanji haben zudem mehrere Lesemöglichkeiten, die mit verschiedenen Wörtern in Verbindung zu bringen sind.

Ein zugegebenermaßen extremes Beispiel, das aber leider zum Basiskanjischatz eines jeden Lernenden gehört, ist folgendes:

生 Bedeutung: „Leben“
Lesungen: SEI, SHÔ, i(kiru), i(keru), i(ki), i(kasu), nama, u(mu), u(mareru), ha(eru), ha(yasu), o(u), ki, ubu, na(ru), na(rasu), na(su), mu(su) und andere (https://dictionary.goo.ne.jp/word/kanji/%E7%94%9F/)

Angesichts dieser Unmenge an möglichen Lesarten stellt sich verständlicherweise die Frage, wie man dieser Herr werden soll. Ziel einer Kanji-Lern-Strategie muss es sein, das Lernen der Zeichen und ihrer Lesungen möglichst einfach zu gestalten. Überflüssiges Wissen darf da erst einmal keine Rolle spielen. „Überflüssig“ definieren wir als solche Informationen, mit denen ein Lernender aktuell nichts anfangen kann. Wenn wir zum ersten Mal auf das Kanji 生 treffen, dürfte das für so ziemlich alle Lesungen zutreffen, denn wir wissen noch nicht, wie sich die Lesungen unterscheiden: wann benutze ich „SEI“, wann „i(kiru)“, oder wann „ubu“?

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, nur Lesungen zu lernen, die in Wörtern vorkommen, die bereits bekannt sind. Wenn 学生 (gakusei) und 先生 (sensei) die einzigen beiden Wörter sind, in denen das Kanji 生 bislang in meiner Vokabelliste auftaucht, dann genügt die Lesung „SEI“ vollkommen! Alle anderen 15+ Lesungen brauche ich nicht!! Daher mein Vorschlag: Wir lernen nicht einzelne Kanji, sondern wir lernen, Wörter zu schreiben. Wenn man irgendwann das Wort 生ビール (namabīru) lernt, kann man immer noch erkennen, dass das Schriftzeichen 生 jetzt plötzlich anders gelesen wird, und schwupps – hat man eine neue Lesung, nämlich nama, gelernt. So baut man langsam und stressfrei (und vor allem sinnvoll) seine Kenntnisse über ein Kanji, dessen Lesungen und damit auch über dessen Bedeutungsspektrum aus.

Nun sind nicht alle Lesungen eines Kanji gleichwertig. Auch Unwissenden dürfte sicher aufgefallen sein, dass in obigem Beispiel die Lesungen SEI und SHÔ großgeschrieben sind, die anderen aber klein. Das liegt daran, dass man die Kanjilesungen in zwei Gruppen einordnen kann:

  • ON-Lesungen sind Lesungen, die die ursprüngliche chinesische Aussprache eines Kanji ins Japanische übertragen – mit einer Anpassung an das japanische Lautsystem, das sich vom chinesischen eklatant unterscheidet. Auch wenn es historisch nicht korrekt ist, kann ein Vergleich der heutigen Mandarin-Aussprache mit der ON-Lesung oft noch die Ähnlichkeit zutage bringen. 生 beispielsweise ist auf Chinesisch shēng, was dann der japanischen Lesung(en) SEI und SHÔ entspricht. (Mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/On-Lesung)
  • kun-Lesungen entsprechen rein-japanischen Wörtern, also solchen, die dem ursprünglichen, nativen Wortschatz des Japanischen angehören. Bei der Übernahme der chinesischen Schrift wurden dann zur Schreibung dieser Wörter Zeichen gewählt, die der Bedeutung der japanischen Wörter am ehesten entsprechen. (Mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Kun-Lesung)

Zusammengefasst kann man sagen, dass ON-Lesungen die AUSSPRACHE eines chinesischen Zeichens ins Japanische transferieren, während kun-Lesungen die BEDEUTUNG repräsentieren.

Es ist heutzutage üblich, ON-Lesungen in Großbuchstaben zu schreiben und kun-Lesungen in Kleinbuchstaben. Auf Japanisch werden in Kanji-Listen die ON-Lesungen in Katakana, die kun-Lesungen in Hiragana dargestellt.

Aber ist es wirklich wichtig, zu wissen, welche Lesung ON und welche kun ist? Zählt das nicht zu „überflüssigem Wissen“? Erschwert man sich nicht die Lernerei zusätzlich, wenn man diesem Unterschied zusätzlich Bedeutung beimisst?

Tatsächlich kann man die ersten Lernetappen im Japanischen auch ohne diese Unterscheidung bewältigen, aber irgendwann offenbart sich einem der Sinn hinter dieser Unterscheidung. Ein paar Beispiele, warum es nützlich bis wichtig sein kann, den Unterschied zu kennen:

  1. Die überwiegende Mehrheit der japanischen Wörter, die mit mehr als einem Kanji geschrieben werden, folgen einer Art „Lesungsharmonie“: ON zu ON und kun zu kun, was bedeutet: Wenn ein Kanji einer Kombination in der ON-Lesung gelesen wird, dann wird das zweite Kanji höchstwahrscheinlich auch in der ON-Lesung gelesen. Gleiches gilt für kun-Lesungen. Das ist eine tolle Hilfestellung beim Erlernen neues Vokabeln und kann auch beim Entziffern noch unbekannter Kanjikombinationen von Nutzen sein.
  2. Im Bereich der Zählwörter ist es für Anfänger nicht immer ersichtlich, ob man zum Zählen bestimmter Dinge die sino-japanischen Zahlen (ichi, ni, san usw.) oder die rein-japanischen Zahlen (hito-tsu, futa-tsu, mit-tsu usw.) verwenden muss. Auch hier greift üblicherweise die ON-ON/kun-kun-Regel. Das Zählwort
    -dai zum Zählen von Maschinen ist selbst eine ON-Lesung, also verwende ich die ON-gelesenen Zahlen (d.h. die aus dem chinesischen übernommenen): ichi-dai, ni-dai, usw. Das Zählwort -sara zum Zählen von Tellern allerdings ist eine kun-Lesung, also verwendet man die kun-gelesenen, d.h. rein-japanischen, Zahlen: hito-sara, futa-sara etc.
  3. Das Höflichkeitspräfix 御~ lautet entweder o- (kun-Lesung!) oder go- (ON-Lesung!). Um entscheiden zu können, welche Präfixvariante mit welchem Wort steht, kann man auch die ON-ON/kun-kun-Regel heranziehen. So heißt es o-shigoto お仕事 („Ihr werter Beruf“), weil shigoto ein natives japanisches Wort ist, aber es heißt go-shusshin ご出身 („Ihr werter Herkunftsort“), weil shusshin ein sino-japanisches Wort ist und daher in der ON-Lesung gelesen wird.
  4. Das Präfix sho- 諸~ in der Bedeutung „alle … / sämtliche …“ muss mit einer ON-Lesung kombiniert werden! Wenn das Wort sowieso schon sino-japanisch ist, ergibt sich kein Problem: mondai 問題 („Problem“) wird einfach zu sho-mondai 諸問題 („sämtliche Probleme“). Wenn das mit dem Präfix zu belegende Wort allerdings nativ japanisch (also kun-Lesung) ist, muss es bei Kombination mit sho- plötzlich ON-gelesen werden. So wird aus kuni 国 („Land“) –> sho-KOKU 諸国 („alle Länder“).
  5. Eine Möglichkeit, den Superlativ von Adjektiven zu bilden, ist die Verwendung des Präfixes sai- 最~ mit dem Basiskanji des Adjektivs. Allerdings muss auch hierbei das eigentlich kun-gelesene Adjektiv in Kombination mit sai- ON-gelesen werden: ookii 大きい („groß“) wird so zu sai-DAI 最大 („am größten“).

Dies sind nur einige Beispiele, aber sie zeigen, dass das Wissen um die verschiedenen Lesarten eines Kanji durchaus im Bereich der Wortbildung und Grammatik von Vorteil – wenn nicht gar unabdinglich – sind. Da hilft nun also nur, lernen, lernen, lernen…

Glücklicherweise haben ON-Lesungen einige Besonderheiten, die sie oft von kun-Lesungen unterscheiden. Ein paar Richtlinien seien hier kurz aufgeführt:

  • ON-Lesungen sind maximal zwei Hiragana-Silben (Moren) lang. Alles, was länger ist (z.B. あらた、いのち etc.) ist kun-Lesung.
  • Die Lesung endet auf den Silbenschlussnasal ~ん, z.B. まん、せん、くん、みん etc. –> ON-Lesung!
  • Die Lesung enthält einen Langvokal „ô“ (geschrieben „ou“) oder „ê“ (geschrieben „ei“), oder „û“, z.B. ちょう、そう、のう、せい、れい、ちゅう、くう etc. –> ON-Lesung!
  • Wird dagegen der Langvokal durch die Doppelung des Vokals geschrieben ああ、いい、ええ、おお, handelt es sich um eine kun-Lesung.
  • Die Lesung beginnt mit „r“: れい、れん、らい –> ON-Lesung
  • Die Lesung enthält palatalisierte Laute (kleines ya, yu, yo): Dann ist die Wahrscheinlichkeit SEHR groß, dass es sich um eine ON-Lesung handelt (Beispiele: りょ、きゃく、しゅ)
  • Wenn die Lesung ZWEI Silben (Moren) umfasst, ist die Wahrscheinlichkeit für eine ON-Lesung sehr groß, wenn die Lesung auf die Lautketten -aku, -oku, -uku, -eki, -ichi, -itsu, -atsu, -etsu, -utsu, -otsu endet. Beispiele: がく、ぼく、ふく、せき、にち、しつ、はつ、べつ、ぶつ、こつ
  • Wenn eine Kanjilesung durch angehängte Kana (sog. okurigana) ergänzt wird, handelt es sich fast immer um eine kun-Lesung, z.B. mana-bu 学ぶ, ka-u 買う, fuka-i 深い
    Ausnahme: Verben, bei denen hinter dem Kanji ein -jiru steht, sind ON-Lesung, z.B. TSÛ-jiru 通じる.

Diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend, zeigt aber, dass man sich mit einiger Erfahrung das Unterscheiden von ON- und kun-Lesung erleichtern kann.

Was sind eure Erfahrungen mit Kanji-Lernen? Habt ihr weitere Tipps? Seht ihr das mit den Lesungen ganz anders? Ich bin gespannt auf eure Kommentare.

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