Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, welche Sprachen in Japan gesprochen werden? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Japanisch! Und natürlich ist das auch korrekt, aber nicht die ganze Wahrheit.
In den wenigsten Ländern unserer Erde wird nur eine einzige Sprache gesprochen. Das gilt auch für Europa:
- In Großbritannien beispielsweise werden neben Englisch auch Walisisch, Schottisch-Gälisch, Manx (auf der Isle of Man), und Kornisch (Cornwall) als einheimische Sprachen gesprochen. Und natürlich auch zahlreiche Einwanderersprachen: Hindi, Deutsch, Französisch, Chinesisch usw.
- In Deutschland wird Deutsch gesprochen. Klar. Neben dem Standarddeutschen gibt es noch ein paar andere germanische Sprachen auf deutschem Boden, wie das Niederdeutsche (Plattdeutsche), das Sächsische oder das Bairische (die linguistisch gesehen nicht so einfach als Dialekte der Standardsprache gelten können – aber das ist ein Thema für einen eigenen Blogeintrag). Auch in Deutschland werden viele Einwanderersprachen gesprochen, allen voran wohl Türkisch, daneben gibt es viele Sprecher des Englischen, Französischen, Spanischen, Polnischen, Dänischen und semitischer Sprachen wie Arabisch oder Syrisch, usw. Und auch einige Minderheitensprachen sind in Deutschland beheimatet. Prominentes Beispiel ist das Sorbische.
Die Sprachsituation in Japan ist im Groben ähnlich. Auch hier brachten Einwanderer ihre Muttersprachen mit. Chinesen sprechen Chinesisch, Deutsche Deutsch und Amerikaner – vereinfacht gesprochen – Englisch. Nach den chinesischen Einwanderern und Gastarbeitern dürfte die größte solche Gemeinschaft die der koreanischstämmigen Einwanderer sein, die zainichi (在日 – „in Japan Befindliche“), deren Familien teilweise in der dritten oder gar vierten Generation in Japan leben und oft noch immer Koreanisch beherrschen und pflegen.
Es gibt aber auch eine ganze Reihe autochthoner („einheimischer“) Sprachen, die seit langer Zeit auf den Inseln des japanischen Archipels gesprochen werden. Da ist zunächst die Gruppe der sogenannten „Ryūkyū-Sprachen“, die auf den gleichnamigen Ryūkyū-Inseln südlich der Hauptinseln gesprochen werden. Je nach Zählung kommt man auf etwa 10 bis 15 dieser Sprachen, die alle mit Japanisch verwandt sind, aber als eigenständige Sprachen gelten, da sie sich zu sehr von Japanisch unterscheiden, um noch als Dialekte zu gelten. Die Ryūkyū-Sprachen können grob in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die nördlichen Ryūkyū-Sprachen auf der Insel Okinawa und den nördlich davon liegenden Inseln, und die südlichen Ryūkyū-Sprachen auf den Inseln südlich von Okinawa. Die bekannteste dieser Sprachen ist das Uchināguchi, „Okinawanisch“, das auf der Insel Okinawa gesprochen wird. Die Verwandtschaft zum Japanischen wird bereits bei kurzen Sätzen offenbar. Vergleicht den folgenden Satz auf Uchināguchi und Japanisch:
U: Wannē „Omorosōshi“ ndi ‚yuru sumuchi yudan.
J: Watashi-wa „Omorosōshi“ to iu shomotsu-o* yonda.
D: „Ich habe ein Buch namens ‚Omorosōshi‘ gelesen.“
(* im Japanischen wird normalerweise das Wort hon anstelle von shomotsu verwendet.)
Ein sehr extremes Beispiel ist das Ōgami auf der Insel Miyako: kff ff bedeutet „der Kamm, den ich herstelle“ – ziemlich anders als das normale Japanisch (hier würde es tsukuru kushi heißen), nicht wahr? Gemeinsam bilden die Ryūkyū-Sprachen und das Japanische die japonische Sprachfamilie, die bislang noch nicht in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu anderen Sprachen unserer Welt gebracht werden konnten (auch wenn viele Linguisten eine Beziehung zu den altaischen Sprachen herstellen wollen).
Im Norden (Hokkaidō, Südsachalin, Kurilen und sogar die Südspitze von Kamtschatka) wird bzw. wurde eine Sprache gesprochen, die überhaupt nicht mit Japanisch verwandt ist: das Ainu (Eigenbezeichnung: aynu itak). Die Urform dieser Sprache wurde vermutlich schon auf den japanischen Inseln gesprochen, als die „heutigen Japaner“ noch gar nicht eingewandert waren. Man geht davon aus, dass das Ainu Vorläufer in der Sprache der Jōmon-Kultur (ca. 12.000 v. Chr. bis 300 v. Chr.) hatte.
Heutzutage leben die meisten Ainu auf Hokkaidō, obgleich es auch eine größere Zahl Ainu in Tōkyō und anderen Städten außerhalb Hokkaidōs gibt. Während der Edo-Zeit unterhielten die Ainu enge Handelsbeziehungen zu den Japanern, die sie letztlich zunehmend in eine Abhängigkeit von den Waren trieben, die die japanischen Kaufleute anboten. Mit Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912) unternahm die japanische Regierung große Anstrengungen, Hokkaidō und die Kurilen in das Herrschaftsgebiet des japanischen Kaiserreichs einzugliedern. Die Ainu in diesen Regionen wurden als japanische Bürger angesehen und waren gezwungen, ihre eigene Kultur und Sprache aufzugeben. Auch heute noch haben die Ainu mit Diskriminierung von Seiten der japanischen Regierung zu kämpfen, doch ungeachtet dessen gibt es große Anstrengungen, die stark bedrohte Sprache und Kultur wiederzubeleben.
Vergleichen wir auch einen Ainu-Satz mit einem Japanischen, dann werden die Unterschiede deutlich:
A: „Omorosōshi“ sekor aye kampi kunukar.
J: Watashi-wa „Omorosōshi“ to iu shomotsu-o yonda.
D: „Ich habe ein Buch namens ‚Omorosōshi‘ gelesen.“
Ziemlich verschieden, nicht wahr? Nicht nur am Wortschatz, auch am Satzbau und der Morphologie unterscheidet sich Ainu sehr von den japonischen Sprachen: Während Japanisch und die Ryūkyū-Sprachen typologisch zu den agglutinierenden Sprachen gehören, ist Ainu eine polysynthetische Sprache, d.h. Ainu kann komplexe Wörter bauen, die ganzen Sätzen in anderen Sprachen entsprechen. Hinsichtlich der Sprachverwandtschaft gilt Ainu als isolierte Sprache: Eine genetische Beziehung zu einer anderen uns bekannten Sprache kann nicht nachgewiesen werden. Linguisten zählen es daher zu den palöosibirischen Sprachen, einer Gruppe von (teilweise ebenfalls isolierten) Einzelsprachen, die bereits vor der Besiedlung des asiatischen Nordostens durch europäische, chinesische oder japanische Siedler gesprochen wurden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in Japan etwa 15 einheimische Sprachen gesprochen werden: Japanisch mit etwa 127 Millionen Muttersprachlern, die Ryūkyū-Sprachen mit insgesamt etwa 1 Million Sprechern (von denen etwa 98% auf das Uchināguchi fallen; Schlusslicht bei den Sprecherzahlen ist Yonaguni mit knapp 400 Sprechern), sowie Ainu, das nur noch von einer Handvoll Menschen wirklich gesprochen wird.
Erfreulich ist übrigens, dass man zumindest Ainu und Uchināguchi auch mithilfe von Lehrbüchern lernen kann (sofern man Japanisch kann, denn die Lehrwerke sind allesamt auf Japanisch verfasst). Warum also nicht einen eigenen Beitrag zum Erhalt dieser Sprachen leisten und eine dieser wunderschönen Sprachen lernen?